Paloma Eichin/Journalistin
Politiker in Chile wissen schon lange, dass sie sich vor den Pinguinen in Acht nehmen müssen. "Pinguine", so werden die Schüler in dem südamerikanischen Land genannt - wegen ihrer dunkelblau-weißen Schuluniformen. Immer wieder gingen sie zu Hunderttausenden auf die Straßen, 2006 und 2011 etwa. 2019 schließlich stürzten sie die Regierung des amtierenden Präsidenten Sebastián Piñera in eine tiefe Krise, von der sie sich bis heute nicht erholt hat. Millionen Menschen demonstrierten, nachdem die Schüler U-Bahnstationen besetzt hatten, zuvor hatte die Regierung die Fahrpreise erhöht. Die Demonstranten forderten endlich mehr Gerechtigkeit in einem Land, das eine der höchsten Ungleichheitsraten weltweit aufweist.
Anfang dieser Woche sollten die chilenischen Oberstufenschüler eigentlich die PSU ablegen, die "Prueba de Selección Universitaria". Die Prüfung ist das Nadelöhr für den Zugang zu den chilenischen Hochschulen, nur die Besten schaffen es an die Spitzenuniversitäten. Die Schüler aber haben entschieden, das nicht mehr mitzumachen.
Die Gruppe der Sekundarschüler, die sich in regionalen, territorialen und koordinierenden Versammlungen selbst organisiert hatte, beschloss, einem seit der Diktatur geltenden standardisierten Test ein Ende zu setzen, der das Leben der Arbeiterkinder über Jahre hinweg konditioniert und segregiert hat.
Bildung ist in Chile weitgehend privatisiert. Die Studiengebühren liegen je nach Universität und Studiengang zwischen 5.000 und 10.000 Euro im Jahr. Zahlen der Stiftung Fundación Sol zufolge sind 446.000 Chilenen im Moment durch den Bildungskredit verschuldet. Und wer ihn nicht zurückzahlen kann, verliert die Kreditwürdigkeit. 80 Prozent der über 18- Jährigen in Chile sind verschuldet. Viele fordern deshalb seit langem, dass die Regierung die Bildungsschulden erlassen sollte und dass Bildung kostenlos und für alle zugänglich sein sollte.
85 Prozent der Unis in Chile sind in privater Hand, ein Relikt aus der Diktaturzeit Pinochets. Eine Hochschulreform hin zu mehr öffentlicher Bildung wurde jetzt vom Verfassungsgericht kassiert.
Die 18-jährige Ayelen Salgado ist Sprecherin der Asamblea de Estudiantes Secundarios, einer nationalen Vereinigung von Schülern und Schülerinnen. Sie meint, dass das Bildungssystem in Chile nur einen Aspekt eines viel tiefer liegenden Problems darstellt:
„Es gibt ein grundlegendes Problem, das alle Lebensbereiche betrifft und auch die Bildung:
Die Profitorientierung. Bildung wird nicht als Grundrecht betrachtet. Sie ist ein Privileg, für diejenigen, die mehr haben. Diejenigen, die weniger haben, haben keinen Zugang zu qualitativer Bildung.“
Gute Ausbildung nur für eine Elite
Schließlich kostet der Besuch einer Privatschule bis zu 800 Euro im Monat und die Hälfte der Bevölkerung in Chile verdient weniger als 500 Euro. Zudem bekommt nur ein Drittel der Schülerinnen und Schüler von öffentlichen Schulen danach auch einen Studienplatz an einer Universität. Deshalb kann sich nur eine kleine Elite eine gute Ausbildung für die Kinder leisten. Um das zu ändern, müsse es einen Systemwechsel geben, fordert Salgado. Trotz der vielen Proteste hat das Bildungsministerium bisher jedoch nicht auf die Forderungen der Schüler und Studierenden reagiert. Bildungsministerin Marcela Cubillos hat ein Gesetzesprojekt ankündigt, das viele für eine Maßnahme zur Kriminalisierung der Protestbewegung halten:
„Als Regierung werden wir ein Gesetzesprojekt unterstützen, das die politische Indoktrinierung an den Schulen als schwerwiegende Rechtsverletzung klassifiziert. Wenn sich ein solches Verhalten wiederholt, sollen Sanktionen über die Schule verhängt werden
und die Schule ihre Anerkennung verlieren. “Die Antwort der Regierung und ihrer Institutionen auf den Schülerkampf war, sie erneut zu kriminalisieren und eine Klage gegen 34 Sekundar-Anführer anzukündigen, die Teil dieser Mobilisierung waren.
Bildungssystem aus der Ära Pinochets
Viele Experten betrachten die Bildungspolitik der chilenischen Regierung als gescheitert.
Rodrigo Cornejo arbeitet am Chilenischen Observatorium für Bildungspolitik. Er meint, dass die Grundlagen für die Probleme des Bildungssystems in der Pinochet-Diktatur liegen, als viele Einrichtungen im Rahmen neoliberaler Wirtschaftsreformen privatisiert wurden.
Nur 32 Prozent der Schülerinnen und Schüler in Chile besuchen heute eine öffentliche Schule.
„Das Recht auf Bildung wird in Chile nicht garantiert. Heute gibt es kein öffentliches Bildungssystem. Es ist falsch, dass es sich in einer Krise befindet oder nicht gut funktioniert, das öffentliche Bildungssystem wurde zerstört. Hier wurde ein weltweit einzigartiges Experiment gemacht, indem extreme marktwirtschaftliche Maßnahmen und Privatisierungen vorgenommen wurden. Die Folgen davon, kein öffentliches Bildungssystem zu haben, sind brutal und das sehen wir heute im sozialen Umbruch.“
Einen Wandel erhofft sich Cornejo durch die neue Verfassung, die Chile demnächst bekommen soll. Aber ein Systemwechsel sei nur möglich, wenn die neue Verfassung von Vertretern der Protestbewegung gestaltet werde und nicht von der politischen Elite, die die Demonstrationen verursacht hat.
Quelle:
https://www.sueddeutsche.de/politik/chile-schummelpruefung-1.4748438
https://www.deutschlandfunk.de/chile-die-wut-auf-ein-ungerechtes-bildungssystem.680.de.html?
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